Ähnliche Wirkungen I + II / Skins

Gerrit Gohlke
in Figuration of Knowledge – Art as Research
5th Biannual European Conference of the SLSA
ed. by Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin (ZfL), 2008

 

In Heidi Sills Werk markiert die Serie skins eine Zäsur. Die großformatigen Zeichnungen, die simultan die Konturlinien mehrerer Figuren auf einem Blatt erfassen, überlagern und zu einem Bündel beschreibender Kurven verdichten, folgen einem übertragbaren Modell. In einem künstlerischen Werk voller subtiler Anpassungsleistungen an vorgefundene Situationen, an Ausstellungskontexte, Architekturen, die betrieblichen Gesetzmäßigkeiten des Kunstsystems und soziale Situationen bilden sie so einen Gegenentwurf zur orts- und themenspezifischen Adaption, die erst aus dem Umfeld des künstlerischen Handelns seine Methodik ableiten will. Die skins gleichen stattdessen einem wissenschaftlichen Untersuchungsdesign. Sie arbeiten eine zeichnerische Methode an wechselnden Gegenständen ab und erfassen dabei nicht nur die Objekte der künstlerischen Neugierde akribisch auf Papier, sondern verzeichnen umgekehrt mit seismografischer Genauigkeit, welche Spuren ein Sujet an seinem Beschreibungsapparat hinterlässt.

Denn ob die skins sich die monotone Idealität stilisierter Models von den Titelblättern kommerzieller Modezeitschriften einverleiben oder unter Vernachlässigung aller Unternehmenshierarchien die Belegschaft eines Energiekonzerns erfassen, ist Heidi Sills Beschreibungsapparat zunächst vollkommen einerlei. Die Methode wiederholt sich mit dem Stoizismus einer naturwissenschaftlichen Messeinrichtung und nimmt den Vorständen und Sekretärinnen ebenso gleichmütig die Konturen ab wie später den Abbildern von Toten aus der Gerichtsmedizin. Dabei ist die Künstlerin selbst keineswegs gleichgültig gegen ihre Sujets. In einem ebenso sorgfältigen wie langwierigen Rechercheprozess hat sie beispielsweise in Kooperation mit einem gerichtsmedizinischen Institut die als Beweismittel verwendeten Porträts gewaltsam zu Tode gekommener Menschen kopiert. Die Reduktion der Vielfalt physiognomischer Eigenheiten reduziert die Menschen durchaus nicht zum unterschiedlosen entindividualisierten Objekt. Sie leitet vielmehr wie in den physiognomischen Studien des 19. Jahrhunderts aus dem Einzelphänomen Spuren des Allgemeinen ab. Dabei verdichtet sich die Summe der Einzelmerkmale zu einer Typologie der Standards und Abweichungen. Aus zwei Dutzend Einzelfällen ebenso schrecklicher wie beunruhigender und zuletzt nie völlig erklärlicher, roher Gewalt wird so ein Blatt, das mit distanzierter Anteilnahme das Phänomen beschreibt, ohne sich dem überall kursierenden Voyeurismus totaler fotografischer Aneignung zu unterwerfen. Die Zeichnung wird zu einem imaginären, konjunktivischen Porträt. Sie bildet ab, was sein könnte, wenn man statt des fotografischen Details die Vielgestalt der Wirklichkeit hinter den äußeren Oberflächen erfassen könnte.

Freilich, und das macht diese Kunst zu einem so unromantischen Experiment in einem romantischen Medium, bleibt eine solche konjunktivische Empirie ein fiktionales Angebot der forschenden Künstlerin. Die Kunst kann weder den voyeuristischen Hunger der Medien noch die soziale oder kriminologische Realität revidieren. Doch gelingt es ihr, den empirischen Blick auf sich selbst zurückzuwenden. Wie viel Eigenheit, Unterschied, soziale Realität, wissenschaftliche Wahrhaftigkeit nehmen die Zeichnungen eigentlich von ihren so unterschiedlichen Vorlagen in sich auf? Wie viel kann die Kunst von ihr fremden Wirklichkeiten erfassen, wenn sie sich nicht um ihre Handschrift, sondern um eine Art universale, gegenstandsbezogene Genauigkeit bemüht? Am Ende sieht der Betrachter sich einer seltsamen Eleganz und Leichtigkeit gegenüber, aus der gerade das als Ahnung ablesbar scheint, was sich der Kunst entziehen will. Diese Erzählung aus dem Verborgenen ist Heidi Sills Projekt.

 

Similar Effects I + II / Skins

The series skins marks a caesura in Heidi Sill’s work. These large-format drawings - which record and simultaneously overlap the contours of several figures on one sheet, gathering them into a cluster of descriptive curves - follow a transferable pattern. In an artistic œuvre full of subtle adaptation to found situations, to exhibition contexts, architecture, the operating rules of the art system and social situations, they thus represent a counter-design to site-specific and thematic adaptation, which aims to derive its method from the ambience of artistic activity. By contrast, the skins resemble the design for a scientific investigation. They execute a method of draughtsmanship upon changing subjects and in the process, they not only painstakingly capture the objects of artistic curiosity on paper but vice versa, they record the traces that a subject leaves behind on its descriptive apparatus with seismographic precision.

Although the skins incorporate the monotone ideal of stylised models from the title pages of commercial fashion magazines or record the employees of an energy concern with complete neglect for company hierarchies, initially Heidi Sill’s descriptive apparatus is all the same. The method repeats itself with the stoicism of a scientific measuring device and employs the contours of board members and secretaries with the same equanimity as the images of dead people from forensic medicine that she uses later on. But the artist herself is not indifferent towards her subject, by any means. In a process of long and equally painstaking research, she cooperated with an institute of forensic medicine and copied the portraits - otherwise required as evidence - of those who had died a violent death. The reduction of the diversity of physiognomic characteristics certainly does not reduce these people to undifferentiated, de-individualised objects. Rather, as was the case in 19th century physiognomic studies, traces of the universal are derived from the individual phenomenon. The sum of the individual features is thereby concentrated into a typology of standards and deviations. Two dozen individual cases of a never fully explicable, raw violence that is both shocking and disturbing thus become one sheet, which employs a distanced empathy to describe the phenomenon without subjecting itself to the prevalent voyeurism of total photographic acquisition. The drawing becomes an imaginary, conjunctive portrait. It illustrates what could be - if it were possible to record the multiform nature of reality behind the external surface, rather than photographic detail.