surface matters
Sabine Ziegenrücker
im Rahmen der gleichnamigen Ausstellung von Wolfgang Schlegel und Heidi Sill
Freies Museum Berlin, 2010
[...] Was kann, was muss Oberfläche sein, wenn die Dinge zu komplex werden, um ihren Gehalt zu verstehen? Welche Inhalte werden mit ihrer Hilfe transportiert? In unserer medial bestimmten Gesellschaft avanciert die Oberfläche zum Hauptmerkmal und der Umgang mit ihr wandelt sich in einer hochkomplexen, technisierten Welt zwangsläufig grundlegend - ist sie doch oft das einzige, was uns überhaupt zugänglich erscheint, was nicht allein für technisches Gerät gilt, sondern für unsere gesamte Kultur. Das Adjektiv „oberflächlich“ mit seiner negativen Bedeutung charakterisiert allerdings sehr genau unseren Umgang mit dem, was wir von Oberfläche erwarten: einen schönen Schein, ein Trugbild, dessen wahrer Gehalt verborgen bleibt, ein Als-ob. In diesem offenen Zwiespalt siedeln Heidi Sill und Wolfgang Schlegel ihre Arbeiten an, indem sie die Oberfläche als Zwischenraum für Verhandlungen über Schönheit und Zerstörung, Attraktivität und Zerfall nutzbar machen.
[...] Hautnah rückt der Blick auf die Oberfläche bei Heidi Sill, indem sie verbrannte Gesichter als Ausgangsmaterial für ihre zerbrechlichen, zeichenhaften Strukturen nimmt. In den traces projiziert sie Bilder entstellter Unfallopfer übereinander und zeichnet die Narben, die die schweren Verletzungen verursacht haben, in Tusche nach. Mit wissenschaftlicher Genauigkeit kartographiert Sill die Spuren, die ungeschriebene Tragödien hinterlassen haben und lässt ein Netz feiner, organisch geschwungener Linien von ästhetischer Klarheit und Kraft entstehen. Heidi Sill unterzieht die Male der Entstellung einer Metamorphose, die allein durch die Übertragung in eine andere Darstellungstechnik möglich wird. Die Fragilität von Schönheit schreibt sich hier sinnfällig angesichts dieser Verwandlung in fast kalligraphisch anmutende Zeichen ein.
Es ist dieser Übertrag körperlicher Zuständigkeit in zarte Zeichnungen, die auch die Kontakte spannungsvoll aufladen. Linie für Linie wird die pure weiße Fläche des Papiers von Schwarz durchfurcht. Heidi Sill hat sich eine einfache Handlungsanweisung erteilt: von oben nach unten schwarze Linien zeichnen, möglichst dicht und exakt beieinander, Strich für Strich - der Künstler als Zeichenmaschine. Trotz dieses emsigen Bemühens, steht Sill jedoch ihre Körperlichkeit, der menschliche Leib mit all seinen Dispositionen im Weg, der wie ein Seismograph die Bewegungen zu Papier zwingt. Sill macht Fehler, wellenförmige Linien folgen und unter der Hand entstehen wie zufällig poetische Formationen, die an topographische Aufnahmen erinnern. Ohne diese „Fehler“ wären die Zeichnungen reine Fläche geblieben. So aber hat sich der Ausdruck des Körpers eingegraben und sie werden zu Bildern von etwas anderem, das die Phantasie spielen lässt und die Gedanken entführt, zu unbekannten Landschaften etwa oder textilen Strukturen.
Mit ihren cuts verfährt Sill in umgekehrter Richtung. Mit scharfem Messer seziert sie die Welt der Modemagazine. Gesichter und Körper werden kurzerhand zerstört, deformiert und als Ersatzteile für andere Bilder verwendet. Die medial inszenierten, menschlichen Oberflächen werden gewaltsam zugerichtet, so dass ihre vormalige Schönheit jäh ins Gegenteil umschlägt. Und auch die collagierten Innenräume entführen gleich Seelenlandschaften in albtraumhafte Welten der Phantasie. Dabei setzt Sill ihre Schere gezielt an den Stellen des Körpers an, die sich öffnen, die eine Schnittstelle zwischen dem Innen und Außen darstellen: Mund, Augen, Nase, Haut. Dieses Ringen um ein Erkennen dessen, was an der Oberfläche ist, wie diese Schnittstellen beim Menschen funktionieren und was auf ihnen erkennbar wird, ist ein Thema, das sich wie ein roter Faden durch das Werk von Sill zieht.
Das zwiespältige Verhältnis zur Oberfläche, die Faszination ihrer Macht und der Drang sie verstehen zu wollen, liest sich wie eine verbindende Klammer der Arbeiten von Heidi Sill und Wolfgang Schlegel. Mit einer gewissen Zwangsläufigkeit scheint die Auseinandersetzung mit ihr auch an die Frage von Schönheit gekoppelt - ein Feld, das Heidi Sill in den traces und den cuts von zwei sehr gegensätzlichen Positionen aus aufrollt: das Hässliche wird in der Metamorphose zu zarten, poetischen Strukturen und der medial vermittelte, schöne Schein des Lifestyle gerät unter ein paar Schnitten zu etwas Monströsem. ... Voller Spannung erwartet man, ein Dahinter zu erblicken – das aber bleibt die Leerstelle, die Frage, die offene Wunde. Die Oberfläche zerreißt und nichts offenbart sich. Es ist diese Enttäuschung, die es auszuhalten gilt und die gleichzeitig die Macht der Oberfläche mit brutaler Kraft aufscheinen lässt: surface matters.