Köpfe
Stephan Trescher
im Rahmen der gleichnamigen Ausstellung
Oechsner Galerie, Nürnberg, 2011
[...] Hier haben wir es mit dem Verschwinden des Gesichts zu tun, genauer gesagt: mit dem Verschwinden der individuellen Physiognomie. In den großformatigen Tuschezeichnungen der skins geschieht das gleich auf mehrfache Weise; durch ein Zuviel und ein Zuwenig an Information.
Ohne Zweifel erkennen wir in diesen so nervös und fahrig wirkenden, zerfransenden Konturen eindeutig Köpfe. Und das, obwohl die Künstlerin alles, was ein Gesicht zum Gesicht macht, also Augen, Mund und Nase weggelassen hat. Diesem Zuwenig wird ein Zuviel gegenübergestellt, denn ähnlich wie bei der computergestützten Erstellung von Phantombildern oder Schönheitsidealen, legt Sill hier die Gesichter von vielen Einzelpersonen übereinander.
So daß sich auch ohne Umriß die Linienknäuel zu einer allgemeingültigen Vorstellung von „Kopf“ verdichten. Die insularen, seltsam amorphen Binnenformen, die man im ersten, nichtsahnenden Moment vielleicht noch als Auflösung des Gesichts im Ornamentalen interpretiert, haben dabei ganz konkrete Ursachen. Denn Heidi Sill hat nicht irgendwelche Photos zu Grundlage ihrer Zeichenschichtung gemacht, sondern die Bilder von Verbrennungsopfern. Die Linien zeichnen exakt jene Zerstörungen nach, die die jeweiligen Gesichter erlitten haben. Paradoxerweise entsteht in der Summe – bei allem Unbehagen, das einen beschleicht, wenn man die Quellen kennt – eine durch die künstlerische Setzung wiedergewonnene Individualität und eine gegen alle Beschädigung sich behauptende Schönheit.
In ihren demgegenüber kleinformatigen Collagen der cuts schlägt Sill den entgegengesetzten Weg ein. Hier sind die deutlich sichtbaren Verletzungen ein willkürlicher Akt der Künstlerin. Es sind tiefe Einschnitte in Modelgesichter aus Hochglanzmagazinen. Und oft weiß man nicht: holt sie etwas unter tiefen Schichten hervor und legt es frei – oder wird da etwas zugedeckt an Integrität, Unversehrtheit, Individualität und Schönheit. Oder eben nur die Zurichtung des Menschen in der Modeindustrie übersteigert bis zur Persiflage; die Collage als Demontage eines ebenso hochgezüchteten wie vollkommen unnatürlichen Schönheitsideals, das nicht selten wahnhafte Züge trägt.
Zwischen Abstoßung und Faszination schwankt der Betrachter angesichts dieser surreal monströsen Gesichter ohne Augen, die im Detail eher Schauder erregen, aber als geschlossene Komposition aus lauter Fehlstellen sich zu Gesichtsbildern abstrakter Schönheit fügen.