Was ist ein Gesicht
Markus Steinweg
in Ähnliche Wirkungen / Similar Effects
ed. by. Matthes & Seitz Berlin, 2010
english version
Wir wissen, dass das griechische Wort für Gesicht prósopon auch Maske heißt. Wir kennen die Bedeutung der Maske in der antiken Tragödie. Offenbar liegt ihre Funktion in der Auslöschung der individuellen Züge des Schauspielers. Das Wort Person ist eine Ableitung von prósopon. Was ist eine Person? Was ist eine Maske? Was ist ein Gesicht? Ist das Gesicht hinter der Maske oder ist es die Maske selbst? Gibt es ein Gesicht, das keine Maske wäre? Wir treten hier in den Bereich von Enthüllung und Verhüllung, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, aber auch Allgemeinheit und Singularität.
Sein wahres Gesicht zu zeigen, wie man sagt, suggeriert, dass es das gibt und geben kann: das Gesicht hinter der Maske, und die Möglichkeit, die Maske abzulegen, um es zu enthüllen.
Die Erfahrung zeigt, dass es immer ein Gesicht zu viel gibt, immer mehr als nur ein einziges. Es mögen tausend Gesichter sein oder einhundert, oder zwei oder drei, immer gibt es noch eines: ein Gesicht mehr, einen Überschuß an Identität. Freilich markiert dieser Überschuß – statt schlicht eine Bereicherung – die Zerstörung aller Gesichter auf die er sich bezieht, von denen er sich abzieht und distanziert. Die Frage ist also nicht: entweder wahres Gesicht oder Maske. Maske und Gesicht spielen ein Spiel, das unendlich feiner verläuft als das der schlichten Opposition. In der Philosophie hat man zwischen Richtigkeit und Wahrheit zu unterscheiden gelernt. Alles, was zählt, jeder der großen Begriffe der Philosophie und des Lebens, wie Schönheit, Freiheit, Gerechtigkeit usw., entzieht sich dem Richtigkeit-Falschheit-Kalkül. Er entzieht sich der kalkulatorischen Vernunft. Wahrheit ist, was diese Vernunft, was die Berechnung, unendlich begrenzt. Wahrheit ist nichts Gegebenes. Wahrheit ist das, was das Kalkül von Außen bedrängt. Wahrheit nenne ich den Überschuß dieses Gesichts, das die Identität, das Personhafte, die Individualität, aber auch die Gattungszugehörigkeit, das Allgemeine, korrumpiert.
Ein Gesicht zu viel, bedeutet, ein inkommensurables Mehr an Identität. Es bedeutet, dass jede Identität unter dem Druck der Mehrpräsenz zerplatzt, sofern sie sie nicht aufnimmt in ihre Vorstellung von sich. Kein Subjekt, das sich kein Bild von sich macht. Der Narzissmus fortlaufender Identitätsproduktion ist erfinderisch. Immer verlangt er nach der Bestätigung seiner, wie er glaubt, Identität. Er will Authentizität. Er reklamiert etwas anderes zu sein, als er faktisch ist. Das eigentliche Gesicht liegt hinter dem, das die Anderen sehen. Nur der Narzisst kennt es: sein Idealgesicht, seine Wahrheit, seine Authentizität. Aber er fürchtet sich vor dem Gesicht, das sein Bild zu zerstören droht oder zumindest zu verfinstern. Das Gesicht, das ihn bedroht ist dieses inkommensurable Mehrgesicht, das, was zuviel ist, was seine imago bedrängt.
Wie also die Wahrheit, die jedes Kalkül in die Verzweiflung zu treiben droht, in die Rechnung einbeziehen, da sie ihr gegenüber doch widerständig bleibt, da sie doch nichts ist, als das, was sich der Assimilation und Integration sperrt, der Rest, den ein Gesicht zuviel markiert? Indem man zu verzichten lernt auf Identität. Indem man den Mut aufbringt mit mehr als nur tausend Gesichtern zu existieren. Indem man begreift, dass Begreifen nicht alles ist. Die Totalität schließt sich nicht. Der Kreis ist unterbrochen. Es gibt einen Widerstand, der Selbstidentität verhindert. Aber es gibt auch die Möglichkeit sich mit diesem Widerstand zu identifizieren, sich als Subjekt der Unterbrechung zu identifizieren. Die Frage des Gesichts ist von der Frage, was ein Subjekt sei, untrennbar. Das Gesicht ist das Aussehen eines Subjekts, das sich als Schauplatz kontinueller Selbstüberschreitung begreift. Es ist ein Subjekt ohne Subjektivität, ohne Gesicht im ontologischen Sinn. Gesichtsloses Subjekt, oder Subjekt mit immer einem Gesicht zu viel.
Als Szene permanenter Selbsttransformation ist es der Ort an dem Leben geschieht. Das Spiel der Masken, der Tanz der Gesichter, die sich einander auflösen und ablösen, ist die Bewegung des Lebens, wie es sich dem Subjekt in seiner Öffnung auf andere Subjekte einschreibt. Das Gesicht vermittelt zwischen dem Anderen und mir. Es lügt kaum, da die Lüge nichts als ein möglicher Ausdruck, als eine seiner Möglichkeiten ist. Immer grenzt es an das Mehrgesicht, das es mit sich fortreißt auf die Erfahrung des Inkommensurablen hin. Hier liegt seine Evidenz: in der Explosion seiner Evidenzen und Gewissheiten. In der Zerstörung seiner Realität. Die Wahrheit seines Lebens wird in dieser Zerstörung zu suchen sein. In der unendlichen Transformation seiner einzigen Substanz.
Die Geschichte der Philosophie hat verschiedene Namen für diese Zerstörung gefunden. Werden oder schlicht Leben, Desaster oder schlicht Sein. Der Prozess fortlaufender Selbstbestimmung, den man auch Denken nennen kann, ist die Dynamik einer Transsubstantiation, die im Kontakt mit dem Inkommensurablen steht. Eine einzige Substanz, die sich in sich windet, die aus sich heraus in ein Nirgendwo treibt. Die Gestalten und die Figuren, die das Subjekt von sich und seiner Realität entwirft, können unheimlich sein. Sie können alles in Frage stellen, was es von sich glaubt und weiß. Deshalb muß es begreifen, dass die Zerstörung kein Ende haben wird. Da sie sein Leben markiert, das sein Tod als Zerstörung der Zerstörung markiert. Solange es ein Gesicht mehr gibt, als dem Subjekt lieb sein kann, solange existiert es, solange lebt es. Das Gesicht, das alle anderen Gesichter mit seiner Mehrpräsenz bedroht, ist die Wahrheit des Subjekts.
What is a face?
We know that the Greek word for face, prósopon, also means mask. We are aware of the significance of the mask in the tragedy of antiquity. Its function, obviously, was to extinguish the actor’s individual facial features. The word person is derived from prósopon. What is a person? What is a mask? What is a face? Is the face behind the mask, or is it the mask itself? Is there any face that is not simultaneously a mask? Here, we enter into the sphere of revelation and concealment, visibility and invisibility, but also of generality and singularity.
To show one’s true face, as the saying goes, suggests that this exists and can exist: the face behind the mask and the possibility of removing the mask in order to uncover it.
Experience shows that there is always one face too many, always more than just a single face. There may be a thousand faces or one hundred, or two or three, but there is always another one: one more face, an excess of identity. Indeed, this excess signals – rather than simple enhancement – the destruction of all those faces to which it relates, from which it abstracts and distances itself. And so the question is not – either the true face or a mask. Mask and face play a game that operates in an infinitely more subtle way than simple opposition. In philosophy we have learnt to differentiate between correctness and truth. Everything that counts, every one of the great concepts of philosophy and of life – like beauty, freedom, justice etc. – defies the calculus of correctness-falseness. It evades calculative reason. Truth is what confines this reason, this calculation indefinitely. Truth is not a given entity. Truth is what puts external pressure on calculation. I call truth the excess of face that corrupts the identity, the personal, individuality, but also membership of a species, the general.
A face too many signifies an incommensurable excess of identity. It means that every identity explodes under the pressure of this excessive presence, unless it can be adopted into the concept of the self. There is no subject that does not create an image of the self. The Narcissism of continuous identity production is inventive. It always demands confirmation of what it believes is its identity. It wants authenticity. It claims to be something other than what it actually is. The actual face is behind the face that the others see. Only the Narcissist knows this: his ideal face, his truth, his authenticity. But he is afraid of the face that threatens to destroy his image or at least to eclipse it. The face that threatens him is this incommensurable excess face; the one that is too much, that puts pressure on his imago.
So how can one take into account the truth, which threatens to drive all calculation to despair, since it remains resistant to it, since it is nothing but what blocks out assimilation and integration; the remainder that is signified by one face too many? By learning to dispense with identity. By finding the courage to exist with more than only a thousand faces. By understanding that understanding is not everything. Totality is not closed. The circle is broken. There is a resistance that prevents self-identity. But there is also the possibility of identifying oneself with this resistance, of identifying the self as a subject of interruption. The question of the face is inseparable from the question of what constitutes the subject. The face is the appearance of a subject, which comprehends itself as the site of continual self-transgression. It is a subject without subjectivity, without a face in the ontological sense: the faceless subject or the subject which always has one face too many.
As the scene of permanent self-transformation, it is the arena where life takes place. The play of masks, the dance of faces that dissolve and replace each other – is the motion of life as it inscribes itself into the subject when he opens to other subjects. The face mediates between the Other and the self. It seldom lies, since a lie is no more than one possible concept, one of its possibilities. It is always close to that excess face, which it sweeps along with it towards an experience of the incommensurable. Here lies its evidence: in the explosion of its evidences and certainties. In the destruction of its reality. The truth of its life must be sought in this destruction. In the endless transformation of its own substance.
The history of philosophy has found various names for such destruction: becoming or simply life, disaster or merely being. The process of continuing self-determination, which can also be called thought, is the dynamic behind a transubstantiation that makes contact with the incommensurable. One single substance that twines around itself, pushing out of itself into nowhere. The images and figures which the subject creates of himself and his reality can be sinister. They can question everything that he believes and knows about himself. That is why he must understand that there will be no end to the destruction. This is because it signifies his life, which in turn signifies his death as the destruction of destruction. As long as there is one more face than the subject relishes, he goes on existing, he goes on living. The face that threatens all the other faces with its excess presence is the truth of the subject.